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  • 20210515 Esslinger Zeitung, Jeder singt für sich und doch proben alle gemeinsam

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Neuhausen: Die Sänger des MGV-Chors „Das Feuchte Eck“ üben online in Echtzeit mit einer speziellen Software.

Von Gaby Weiß

Online geht vieles, aber online geht nicht alles. Oder vielleicht doch?

Wie so mancher Chor haben auch die zehn Sänger vom Ensemble „Das Feuchte Eck“ des Männergesangvereins (MGV) Neuhausen zu Beginn der Coronapandemie versucht, online zu proben, weil das gemeinsame Singen vor Ort aus Gründen des Infektionsschutzes verboten wurde: „Über ein normales Video-Konferenz-Programm funktioniert aber nicht einmal ein ‚Happy Birthday‘“, musste Dirigent Klaus Breuninger feststellen. „Ich wusste jedoch von Bands und Kammermusik-Ensembles, dass sie das gemeinsame Musizieren online sogar über Ländergrenzen hinweg hinkriegen.“ Also begann der Chorleiter, sich kundig zu machen, und er wurde fündig: Mit der „Jamulus“-Software ist es möglich, übers Internet in Echtzeit zu proben: Die für Video-Konferenzen typischen Latenzzeiten – technisch bedingte Verzögerungen von wenigen Sekundenbruchteilen – entstehen dabei nicht, weshalb das Programm für das gemeinsame Singen und Musizieren geeignet ist.

Genauer hören als in der Liveprobe

Das kleine, aber feine Männerensemble hat sich dafür richtig reingehängt: Jeder Einzelne hat bei sich zuhause die technischen Voraussetzungen geschaffen, ein gutes Mikrofon, einen erstklassigen Kopfhörer und eine externe Soundkarte ange- schafft und das Programm auf dem PC konfiguriert. Die ersten Online-Chorproben gingen für Vorbereitung, Abstimmung, Versuch und Irrtum drauf. „Aber seit Januar sitzen wir jeden Freitagabend zuhause vor unseren Computerbildschir- men und proben – jeder für sich und doch alle gemeinsam. Jeder Sänger hat auf dem Bildschirm ein kleines Mischpult mit Reglern vor sich und kann dort die Stimmen seiner Sängerkollegen lauter und leiser stellen und sich so seinen ganz privaten Chorklang zusammenstellen,“ erklärt Thomas Haisch, Sänger bei „Das Feuchte Eck“ und Präsident des MGV.

Der Dirigent Klaus Breuninger hört alle seine Sänger, er spielt einzelne Stimmen via Keyboard ein, zählt ein, und er kann einzelne Passagen und Stimmen gezielt korrigieren – wie in einer echten Probe. Weil er einzelne Sänger stummschalten kann, hört er andere umso deutlicher: „So genau höre ich den einzelnen Sänger in einer Liveprobe nicht“, benennt Breuninger einen Vorteil der Software. „Außerdem können die Nebensitzer nicht ins Gespräch vertieft sein, während die anderen proben, da wird nicht miteinander geschwätzt“, ergänzt er lachend. Auch die Sänger können sehr gezielt an ihrer eige- nen Stimme arbeiten, weil sie bei Bedarf die Chorkollegen stummschalten kön- nen: „Diese Fokussierung ist förderlich für die Konzentration, das bringt bestimmt viele weiter“, vermutet Breuninger. 

Trotzdem hat das Online-Proben Nachteile, die nicht wegdiskutiert werden können, wie der Dirigent betont: „Mein Beruf besteht aus viel nonverbaler Kommunikation, normalerweise hängen mir die Leute beim Dirigieren an den Lippen oder schauen auf meine Hände. Das fällt alles weg, denn das Programm läuft aus technischen Gründen ohne Kamera.“ Auch das Hören auf die Mitsänger, die Arbeit am Chorklang und an der gemeinsamen Dynamik ist online nur eingeschränkt möglich: „Dass der Chor wieder richtig schön zusammenklingt, das werden wir nach Corona erarbeiten müssen. Aber technisch und vom Entwickeln des Repertoires steht das einer normalen Probe fast in nichts nach“, freut sich Breuninger.

„Das Feuchte Eck“ hat seit Beginn der Pandemie den persönlichen Kontakt über Videokonferenzen gehalten, sobald es möglich war, mit Hygienekonzept geprobt und während der Lockerungsphase im vergangenen Sommer sogar ein Open-Air-Konzert im Saalbau-Biergarten, ein geistliches Konzert in Sigmaringen und eines in der Basilika in Weingarten gegeben. Während des Lockdowns wurden Videos aufgenommen und ein Online-Adventskalender zusammengestellt, was die MGV-Fans im Netz begeisterte und ein wenig darüber hinwegtröstete, dass die Lange Nacht des Weins und das Weihnachtskonzert abgesagt werden mussten.

Vorbereitet für den Neubeginn

MGV-Präsident Thomas Haisch ist sich sicher, dass so viel Einsatz belohnt wird: „Sobald die Einschränkungen gelockert werden, können wir deshalb ganz schnell wieder auftreten. Diese zweistündigen Online-Proben sind so effizient, dass wir überzeugt sind, dass wir schon kurze Zeit nach Ende des Lockdowns unsere Lange Nacht des Weins endlich live präsentieren können.“ Und auch Dirigent Klaus Breu- ninger kann es kaum mehr erwarten: „Ich bin Musiker mit Leib und Seele und sitze seit einem Jahr – sozusagen in Dunkelhaft – in meinem kleinen Tonstudio und probe von hier aus mit meinen verschiedenen Chören, anstatt gemeinsam mit ihnen zu singen und vor Publikum auf der Bühne zu stehen. Jetzt zeichnet sich Entspannung ab, das sind traumhafte Aussichten.“